Normal durchgeknallte westdeutsche Nachkriegsfamilie?

Die Reise (der Kriegsenkel) nach Jerusalem im Lintler Krug

Ein Theaterstück der besonderen Art auf hohem Niveau konnten die Zuschauer im ausverkauften Saal des Lintler Kruges erleben: „Die Reise nach Jerusalem“ von Hans König. Der Kultur- und Förderverein Kirchlinteln hatte gemeinsam mit der Gleichstellungsbeauftragten der Gemeinde Kirchlinteln zu dem anspruchsvollen Abend eingeladen. Das Schauspieler-Trio Birgit Scheibe, Julia Nehus und Christoph Plünnecke forderte und erhielt mit seinem intensiven Spiel über 80 Minuten die volle Aufmerksamkeit des Publikums. Das Bühnenbild mit einigen Hockern und einer Kommode war schlicht und lenkte nicht vom Thema ab: die Verstrickung der eigenen Familie in die Verbrechen des Holocaust. Die drei Geschwister Nico, Marianne und Michael haben sich im Laufe der Jahre nicht mehr viel zu sagen und kaum Kontakt. Das ändert sich als der Großvater stirbt und die drei zur Testamentseröffnung wieder aufeinander treffen. Sofort brechen die alten Rivalitäten, Eifersüchteleien und Empfindlichkeiten wieder auf. Der Titel des Stücks erinnert an das Kinderspiel mit den Stühlen, wo immer ein Stuhl zu wenig ist, so dass einer keinen mehr erhält. Auch die Geschwister gönnen sich bei ihrer ersten symbolischen Reise nach Jerusalem gegenseitig keinen Hocker, und so verliert diesmal Marianne den Kampf und hat das Nachsehen.

Der Zuschauer erfährt von den einzelnen Lebensumständen und vielfältigen Problemen der Geschwister, von denen es scheinbar keiner geschafft hat, ein erfülltes glückliches (Familien-)Leben zu führen. Zugleich erhalten die die drei Zugang zu den Dokumenten und Tagebüchern ihres Großvaters. Dass dieser eine befreundete jüdische Familie denunzierte, dadurch deren Tischlerei übernehmen konnte, worauf widerum sein jetziges Vermögen basiert- das war Michael sogar bekannt. Entsetzen und Scham („wenn das jemand herausfindet!?“), Verständnis und Versuche, das herunterzuspielen („es ist schon so lange her“…. „Das haben damals doch alle gemacht“…)beherrschen die emotionale Diskussion der Geschwister. Doch es kommt noch schlimmer- Opa war auch an Massen- Erschießungen von Juden beteiligt. Das schockiert alle und nach und nach wächst die Erkenntnis, dass die Alkoholprobleme des Vaters, sein verletzendes Desinteresse und seine Gewalttätigkeit mit dem Wissen um die Schuld des Großvaters zusammenhängen. Marianne bringt es auf den Punkt: „Ich dachte, wir wären eine mehr oder weniger normal durchgeknallte westdeutsche Familie der Nachkriegszeit“. Doch es war wohl mehr als das und nun ist es nur noch ein kleiner Schritt, die Gründe für die eigene Beziehungsunfähigkeit zu erkennen: als sogenannte Kriegsenkel sind sogar sie selbst noch von den Folgen der Schuld und den Verstrickungen der Großeltern betroffen, da über Generationen hinweg geschwiegen und verheimlicht- aber nie aufgearbeitet wurde.

Dem Bremer Autor und Regisseur Hans König ist mit „Reise nach Jerusalem“ ein Stück gelungen, das die Zuschauer begeistert und nachhaltig berührt und beeindruckt. „Die Enkelgeneration beginnt langsam damit, die Verstrickung ihrer Großeltern in die Verbrechen der Nazizeit zu hinterfragen und aufzuarbeiten, da sie die nötige Distanz hat. „, meint Hans König. Diesen neuen Aspekt wollten er und die Schauspieler Birgit Scheibe, Julia Nehus und Christoph Plünnecke herausarbeiten. Das ist ihnen in Kirchlinteln sehr gut gelungen und auch die drei Geschwister machen sich am Ende von Verden aus miteinander versöhnt auf die Reise nach „Jerusalem“, um das Testament ihres Großvaters zu erfüllen. Und nun bleibt auch für jeden der drei ein Stuhl über und keiner muss zurückbleiben.

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